Home
Impressum
RUTH FLEIGS GALERIE
Schulkinder malen
Bilderbuch Rob. Rabe
Kritzel-Kratzel
HORST FLEIGS TEXTE:
I  Philosophica
II  Reiseberichte
III Zu Wim Wenders
IV Film und Kindheit
V Mitschüler/Schulen
VI Germanistica
A DER ALTE GOETHE
Briefpartner
Briefkunst
Gesprächspartner
Goethes Tagebuch
Schatten des Todes
Ausg. letzter Hand
Weltliteratur
Geistig vereinsamt
Sekretieren
Erinnerungsschocks
Sich-historisch-Sein
›Warte nur, balde‹
Kollektivwesen Genie
Hypsistarier Goethe
B ZU THEODOR FONTANE
Herr von Ribbeck
Grete Minde
Ellernklipp
Unt. Birnbaum. Quitt
L'Adultera
Schach von Wuthenow
Gegenzeitigkeit
Zur Stechlin-Fontäne
C ZU »BONAVENTURA«
Literar. Identität
Mikrostilistik
Exlusionsphase
›Memnon‹-Nacht
Name und Maske
D ZU AUG. KLINGEMANN
Inhaltsübersicht
Forschung seit 1973
Kandidatenreigen
Sprachstatistiken
K-s Artikel und ›Nw‹
Datierungstabelle
Arnims Nachtwache
Nacht bei Klingemann
Pseud. Bonaventura
Demiurg Shakespeare
Maske »Nihilismus«
»Parallelen«-Debakel
Mimetisches Genie
Prometheus Theater
Braunschweiger Vita
Vampirismus
Zwei Lieblingsorte
Collegium Medicum
Freigeist Lessing
Mentor Eschenburg
Alessandro-Kreuzgang
Weitere Postskripte


MERLIN ODER DER ALTE GOETHE
DIE LETZTEN JAHRE 
(1823-32)

________________________________________________________________________________________ 


Bildquelle: http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Sulpiz_Boisser%C3%A9e.jpg



Nun gab es immerhin schon nach Veröffentlichung der Helena einige erfreulich verständnisvolle Stimmen. War­um teilte er nicht wenigstens seinen engeren Brieffreunden das Faust-Manuskript teilweise oder suk­zes­si­ve in Ab­schrif­ten mit? Wäre dies für ihn schon ein Verstoß gegen die strenge, ja zeremonielle Ver­knüp­fung die­ses Ma­nu­skripts mit seinem Lebensende und poetischen Nachleben gewesen? Über den ze­re­mo­ni­el­len Cha­rak­ter gibt uns der kryp­ti­sche Schluß sei­nes Briefes vom 24.11.1831 an Boisserée nähere Aus­kunft. Nach­dem er die­sen über die »noch ei­ni­ge Jah­re« währende Versiegelung des Manuskripts mit dem Hinweis hin­we­gzu­trö­sten such­te, daß die dar­an in­ter­es­sier­ten Freunde doch alle jünger als er selber seien, schließt Goe­the mit dem fol­gen­den »Ge­schicht­chen«: Als er sich ein­mal in ei­ner thüringischen Land­stadt nach ei­ner be­deu­ten­den Se­hens­wür­dig­keit er­kun­dig­te, ha­be man ihn auf ein soeben errich­tetes sehr schö­nes Fried­hofs­mo­nu­ment auf­merk­sam ge­macht; ein vor 50 Jah­ren ver­stor­be­ner »Ehren­mann« habe da­mals testamentarisch bestimmt, daß seinem Kapital all die Jah­re über die Zin­sen zu­ge­schla­gen werden soll­ten, um dann von ei­nem vor­züglichen Künstler dieses »dem an­ti­ken Ge­schmack sich nä­hern­de« Mo­nu­ment aus­füh­ren zu las­sen. Er, Goethe, habe das Monument bewundert und be­grif­fen, daß es dem Ver­stor­be­nen »ei­gent­lich nicht um Ruhm, son­dern nur um ein heiteres Andenken zu tun war«. Wir kön­nen in die­ser Ge­schich­te, die schon Bois­se­rée va­ge als »Pa­ra­bel« auffaßte, deutlich genug Goe­thes Be­zie­hung zu dem Faust-II-Ma­nus­kript wie­der­er­ken­nen, dem Werk, das ja die Aus­söh­nung der Mo­der­ne mit der An­ti­ke sucht und, wie Bois­se­reé soeben vernahm, mit »ernst gemeinten Scherzen« den Freun­den Spaß be­reiten soll­te. Als sein Ver­mächt­nis aber möchte Goethe es zugleich zurückbehalten, für ein ge­reif­tes Ver­ständ­nis, das nicht mit dem Zeit­punkt der er­war­te­ten Ver­öf­fent­li­chung »in einigen Jahren« oder der fak­ti­schen im er­sten der Nach­laß­bän­de 1832 zu­sam­men­fallen müßte. Und nehmen wir die Grabmal-Metaphorik ernst, so läßt sie die wei­te­re le­bens­ge­schicht­li­che Aus­le­gung zu, daß es sein Thema ist, das von seinen li­te­ra­ri­schen An­fän­gen an le­ben­dig ge­blie­be­ne, das er nun als un­zeitiges mit ins Grab nimmt. Daß sich Goe­the hier al­so aus der Ge­gen­wart zu­rück­zieht, um spä­ter ei­gent­lich erst prä­sent sein zu können. Merlin weiß sich schon im leuch­ten­den Gra­be.

    Vielleicht läßt sich dieses Gleichnis so auch janusköpfig lesen, als Rückdeutung zugleich auf die letzten 50 oder 60 Jah­re, die Goe­the gern für sei­ne Beschäftigung mit dem Fauststoff veranschlagte, den er »als ein in­ne­res Mär­chen« so lan­ge mit sich her­um­ge­tra­gen habe (8.9.1831 an Boisserée). Es ist die eigene Le­bens­tie­fe und schöp­fe­ri­sche Un­ru­he, auf die hin die Faust-Dichtung den Blick wie kein anderes Werk öff­net und für die sie schon aus die­sem Grun­de ste­hen kann. Hören wir hierzu nur noch, wie Goethe auf Kne­bels Ur­teil, das He­le­na-Zwi­schen­spiel sei ein wun­der­ba­res, magisches Dichtwerk, in seiner Antwort vom 14.11.1827 ein­geht; wie em­pha­tisch er be­kennt, daß »dieses Werk, ein Erzeugnis vieler Jahre, mir ge­gen­wär­tig eben so wun­der­bar vor­kommt als die ho­hen Bäume in meinem Garten am Stern, welche, doch noch jün­ger als die­se po­e­ti­sche Kon­zep­ti­on, zu ei­ner Hö­he her­an­ge­wach­sen sind, daß ein Wirkliches, wel­ches man selbst ver­ur­sach­te, als ein Wun­der­ba­res, Ung­laub­li­ches, nicht zu Erlebendes erscheint«.

- 24 -

Sulpiz BoissereƩe (1783-1854)
Kreidezeichnung von J. J. Schmeller (1827)
Zurück
Top
http://www.fleig-fleig.de/