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III Zu Wim Wenders
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MACHTKÄMPFE  INNERHALB  UNSERER  GEDÄCHTNISBILDUNG?
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Und noch eines fällt in diesem Zusammenhang auf. Es ist dies das auch von anderen öfter beobachtete Phä­no­men, daß man sich bei der Rückkehr immer wieder dabei ertappt, die Passanten in der einst vertrauten Umge­bung unwillkürlich und durchweg falsch zu identifizieren, indem man voreilig altbekannte Züge in ihre Gesich­ter hin­ein­liest. Steht hinter die­sem Iden­ti­fi­zie­rungs­zwang le­dig­lich die an sich harmlose, nur über­mäch­ti­ge und all­zu großzügig identifizierende Freu­de des „Wie­der­se­hens”, die un­serem ge­gen­wär­ti­gen Ich ent­springt? Oder drängt hier vielmehr etwas aus unserer Tie­fe em­por, das, für uns über­ra­schend, aus sei­nem Er­in­ne­rungs­re­ser­voir her­aus alte Gesichtszüge bereitstellt und uns da­mit auch für kurz täu­schen kann, ja, das sich viel­leicht da­durch ge­gen das eigene Vergessenwerden wehrt? Wie auch im­mer, die in­zwi­schen statt­ge­fun­de­nen Ver­än­de­run­gen wer­den von uns - oder in uns - am liebsten verleugnet. Wir ertra­gen es of­fen­bar nur schwer, daß Per­so­nen, Dinge und Ver­hält­nis­se unseres ehe­ma­li­gen Le­bensbereichs, selbst wenn wir ihn einst mit gro­ßer Er­leich­te­rung oder auch ju­gend­li­chem Hoch­mut verlassen hat­ten, in un­se­rer Ab­we­sen­heit gleich­gül­tig ih­ren ei­ge­nen Gang ge­nommen haben, daß wir also nach­weis­lich ent­behrlich oder er­setz­bar wa­ren. Und da­mit deu­tet die Wie­der­be­geg­nung mit un­se­rer frühen Vergangenheit zu­gleich auf un­ser Le­bens­en­de hin, auf die be­trüb­liche Vor­ah­nung, daß wir viel­leicht schon sehr bald keine nennenswerte Spur mehr hin­ter­las­sen dürf­ten.



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Manchem Proust-Leser mag die eine oder andere Erinnerungsempfindung und Spekulation über ein „Ich-Phan­tom” ver­traut vor­kom­men. Doch bieten sich dem Zurückkommenden weniger tröstliche Aussichten als dem Sich­er­in­nern­den der Proust­schen ,Re­cherche’ dar. Marcel Proust geht ja dabei auch nicht vom Wie­der­auf­su­chen der al­ten Stätten aus, son­dern setzt al­les auf un­vor­her­seh­ba­re, zu­fällig ausgelöste Sin­nes­emp­fin­dun­gen, die dank ihrer Analogie mit unbewußt ge­spei­cher­ten Eindrücken das da­zu­ge­hö­ri­ge Er­leb­nis wieder in uns her­auf­ru­fen, es in der Erinnerung szenisch entfalten und da­bei das ge­gen­wär­ti­ge Ich mit der glück­se­ligen Er­fah­rung einer angeblich zeitüberdauernden, das dama­lige Ich wie­der­er­we­cken­den Exi­stenz zu be­lohnen ver­mö­gen. Mei­ne ei­gene Erfahrung hingegen ist die, daß Selbstzerstörerisches dem droht, der nach lan­ger Zeit wie­der be­stimm­te Stät­ten sei­ner Le­bensgeschichte aufsucht: Erst jetzt, da der im­mer nur ober­fläch­lich be­wuß­te Zei­ten­abstand sinnlich-emotional als et­was er­lebt wird, das sich kalt und gleich­gül­tig von dem Zu­rück­keh­ren­den fort­ent­wi­ckelt hat, so daß die­se Örtlichkeiten, mö­gen sie auch noch wie in­takt da­liegen, ihm als Le­bens­stät­ten ent­glei­ten, erst jetzt kann er dank jener Irritationen, Phan­tom­emp­fin­dun­gen und Pseu­do­iden­ti­fi­ka­ti­o­nen die Er­fah­rung ma­chen, wie sehr er doch selbst noch im In­ner­sten dazugehört. Und daß er eben des­halb auch mit dem Ver­schwun­de­nen weit­hin sel­ber schon ver­schwun­den sein müßte.


Nun mag man einwenden, daß eine derartige Wiederkehr zu Stätten jugend­li­chen Umbruchs eine Aus­nah­me­si­tu­a­tion ist, die zu­dem in besonderem Maße hal­luzinatorische Wahrnehmungen begünstigt. Denn die un­ter­schied­lich­sten Existenzmöglickkeiten, 


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