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IDENTITÄTSFRAGEN. - PERSÖNLICHE  IDENTITÄT  UND KOLLEKTIVE  DIMENSION  DER  ERINNERUNG

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dessen, was wir meist zusammen mit anderen unternahmen. Und ebenso greift das, was ich von ihm Neues über mich erfuhr, in un­se­re von mir er­in­ner­te ge­mein­same Zeit ein und erweitert zugleich mein Selbstgefühl um etliche Nuancen. Denn bislang be­trach­te­te ich mich, der ich nur an Wo­chen­endtagen oder in den Ferien wieder in diese alte Wohngegend zu­rück­kam, als stum­men und bei­na­he anonymen Mitläufer der dortigen Spiel­ka­meraden. Diese „Clique” aber hät­te mich differenzierter wahr­ge­nom­men und als „den Professor” bezeichnet, da ich, der einzige Oberschü­ler weit und breit, noch manch an­de­res ge­wußt und bemerkt hätte. Die­ses Ge­genin­teresse hatte ich da­mals also nicht zur Kennt­nis genommen und deshalb sicherlich öfter ent­täu­schen müssen. Und hat­te auch nicht geahnt, daß ich ihm „et­was ete­pe­te­te” vor­ge­kom­men war; hät­te so ein Glas Wasser, um das ich ihn gebeten hat­te, mit dem Hin­weis ab­ge­lehnt, daß vor­her noch etwas Milch drin gewesen sein müßte, so daß er das Glas erst hät­te spü­len müs­sen. Das nahm ich ihm so­fort ab und sehe inzwi­schen diese Szene in seiner Woh­nung vor mir (noch als ein bloßes Vor­stel­lungs­bild, das noch nicht den Cha­rakter eines Erinnerungsbildes gewinnt, wie es sich für die erwähnten Laut­ge­bär­den mei­nes er­sten Leh­rers ab­zeichnete).

 

Kleinere Korrekturen wie diese, mögen sie auch wie hier still und kräftig in einem weiterarbeiten, kann man noch mit einigem Hu­mor relativ leicht an dem eigenen Selbstbildnis vornehmen. So war ich auch lediglich dar­über ir­ri­tiert, wie zäh eine meiner längst schon vergessen geglaubten Lügen mich noch verfolgen konnte, als mich näm­lich ei­ne Cou­si­ne nach 30 Jahren als erstes la­chend frag­te, ob ich mich noch an mein hart­nä­cki­ges Leug­nen eines Birnenraubes erinnern könnte. Weit schwerer fällt es mir aber, mit Wolf­gangs Be­mer­kung fer­tig zu wer­den, er, der Halbwaise, hätte meinen Bruder und mich sehr um unser Fa­mi­li­en­le­ben be­nei­det, bis sei­ne Mut­ter zu ihm gesagt hätte: „Sei nur froh, daß du nicht einen solchen Vater hast!” Das war si­cher­lich nicht nur als Trost­wort für ihn ge­dacht; vielmehr hatten einige Leute doch einiges von dem mit­be­kom­men, was mein Bruder und ich nur stumm und oh­ne Ah­nung um mögliche Zeugen durchzumachen hat­ten. Dies nach Jahr­zehn­ten zu erfahren, war deshalb so bit­ter, weil ich mir so­gleich sagte, daß es damals noch an­de­re und wo­mög­lich ein­fluß­reichere Beobachter unseres Vaters ge­ge­ben ha­ben dürf­te und es bei ent­spre­chen­den Hin­wei­sen und Vorhaltungen so nicht hätte weitergehen müssen. Eine banale spe­ku­la­ti­ve Über­le­gung, die mich aber wie manch an­dere stark zeitver­setzt eintreffende Nachricht aus der Vergangenheit gründ­li­cher be­stürz­te und für mein Emp­fin­den einen tieferen Keil in das Ge­füge der Faktizität trieb, als es das ei­gent­lich ge­gen­fak­ti­sche Po­ten­ti­al der Ge­gen­wart ver­mag. Mußte ich doch fol­gern, daß auch all unsere auf­rei­ben­den kind­li­chen Abwehrmanöver, dieses stän­di­ge Täu­schen- und Ver­schwei­gen­müssen, unter ge­ring­fü­gig mo­di­fi­zier­ten Um­ständen uns beiden hätten erspart bleiben kön­nen. Was soll's! möch­te man sich da zu­ru­fen. Und nur ja kein spä­tes Selbstmitleid! Und doch, wenn ich erst jetzt, Jahrzehnte spä­ter da­von er­fah­re, daß der Vater un­se­res Klas­sen­be­sten er­klärt hät­te, daß ich, der ohne jede Hilfestellung an diesem Eli­tegymnasium


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