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IV Film und Kindheit
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VI GERMANISTICA

GESTALTEN  DES  VERGESSENS

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Meinen Aufzeichnungen aus Kindheit und Jugend zufolge hatte auch ich inzwischen vieles vergessen. Für die spätere Jugend konnte ich sogar einmal die Probe darauf machen, indem ich meine Erinnerungen zu einer knapp dreiwöchigen Trampfahrt nach Süd­frank­reich aufzeichnete und sie danach mit den Tagebuchnotaten des damals 18jährigen verglich. Dass ich in der freien Er­in­nerung wiederholt über ganze Tage hinwegsprang, war gar nicht so verwunderlich, hatte ich doch einen Großteil meiner Zeit als Tram­per beim monotonen Warten verloren, bei der tagtäglich sich wiederholenden Organisation von Unterkunft und Verpflegung sowie beim Weiterkommen selbst, das bei dem raschen Fahrerwechsel kaum einmal ein bemerkenswertes Gespräch zuließ. Auch andere Erinnerungsfehler waren im Grunde unerheblich. Natürlich enthielten die Tagebuchaufzeichnungen viel mehr Details als mein Erinnerungsbericht, der den Ablauf mitunter arg verkürzte und hier und da auch umstellte. Aufschlussreich an diesen No­ti­zen waren aber nicht die Details in ihrer Korrektheit, vielmehr das, was bei der Wiedergabe damals unausgesprochen blieb, mir nicht recht bewusst wurde und erst dem Erwachsenen nun beim Wiederlesen aufging.

   Übrigens ist mir auch die eine oder andere relativ frische Notiz mittlerweile schon wieder fremd geworden. Vor sechs Jahren fotografierte ich so ein Zechengelände, auf dem ich als 15ähriger Ferienarbeiter mit Grubenstempeln zu tun hatte und notierte zu einem Foto, das einen tiefliegenden, seit langem zubetonierten schmalen Eingang zeigt: „Zugang zu dem Grubenmund, in dem wir – nur ’zig Meter tief – die Grubenstempel einlagerten, die dann mit Loren weiterspediert wurden”. Jetzt aber habe ich zu diesen detaillierten Angaben keine Erinnerungsbilder mehr und verbinde auch nichts mehr mit dem Anblick des Fotos! Es dämmert mir nur, dass ich zusammen mit einem jungen Hilfsarbeiter wirklich einmal in einem solchen Stollen zu tun gehabt ha­ben muss, doch würde ich den Stollen ganz woanders als auf dem Foto zu sehen lokalisieren.


Auch wenn ich manchmal erstaunt war über das, was ich sogar an bemerkenswerten Einzelheiten vergessen hatte, war und bin im Grunde darüber nicht beunruhigt. Beunruhigend finde ich eher, welche Unmengen von gleichgültigen Details in meinem Gedächtnis haf­ten geblieben sind. Ich weiß dies immer noch nicht recht zu deuten, betrachte es mitunter als Verschwendung meiner Auf­merk­samkeit und frage mich, ob mir als Kind wirklich so selten etwas Förderliches geboten wurde. Dann wiederum tröste ich mich lieber mit der Vorstellung, dass das Bewahrenmüssen solcher Inhalte nun einmal der Preis für ein gutes Langzeitgedächtnis ist. Kaum mehr glaube ich daran, dass derartige Erfahrungen und Wissensinhalte aus mir unbekannten Gründen noch einmal auf­schluss­reich werden könnten, auch wenn ich sie erst einmal in einer umfangreichen Textdatei hinterlegt habe. Manchmal ha­be ich vielmehr den Eindruck, als sollte ich dadurch von mir unbekannten seelischen Kräften oder Konflikten in der Ver­gan­gen­heit festgehalten werden (ein psychobiologischer Erklärungsversuch dazu später).


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