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III Zu Wim Wenders
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GESTALTEN  DES  VERGESSENS. BIOGRAPHISCHE STIMMIGKEIT

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Wenn überhaupt, dann könnte man für solch banale Gedächtnisinhalte die seit der elektronischen Datenverarbeitung besonders beliebte Metapher von einer „Speicherung” gelten lassen. Erinnerung aber ist alles andere als ein Abrufen von Gespeichertem. Schon der gegenwärtige retrospektive Akt des Sicherinnerns verläuft durchweg als Suchvorgang, als tastendes oder auch kom­bi­na­to­risches Sichvergewissern; und trifft dann im letzten auf die strukturelle, unmerklich über lange Zeit hin nichtbewusst ver­lau­fen­de Erinnerungsbildung, deren gewaltiges schöpferisches Potential hier zu dokumentieren war.

   Lässt sich aber nicht da von einer Zeitspeicherung sprechen, wo eine Erinnerungsszene noch so andrängend vor einem steht, dass in ihr das damalige Erlebnis wie konserviert erscheint? Dies gilt vor allem für akustisch auffällige Szenen, sei es, dass ein Zuruf wie der Einkaufsruf meiner Großmutter oder eine Anrede in fremder Sprache noch immer in mir nachklingen, sei es, dass damals alles betont leise oder stumm ablief wie bei der nahezu geflüsterten Verabredung mit jemandem beim Versteckspiel. Die magische Präsenz dieser Szenen verdankt sich einem Offenheitsgefühl, das den damaligen Momenten aber selber schon an­ge­hör­te, indem ich voll Erwartung war, aus unterschiedlichen Gründen ganz Ohr zu sein hatte. Zudem zeigt gerade der noch wie un­er­le­dig­te Einkaufsruf, dass der damalige Zeitmoment nicht lediglich „gespeichert”, sondern transformiert wurde, indem der Zuruf mei­ner Großmutter insgeheim in einen Appell an ihr Andenken verwandelt wurde. Ein die Vergangenheit und Gegenwart trans­zen­die­ren­der Moment wie der Aufforderungsruf meiner Klassenkameradinnen aus der Grundschule, die immer noch auf die Er­fül­lung meiner Mission dringen („Der Kaiser schickt seine Soldaten aus,/ Er schickt den Horst zum Tor hinaus”).


Die Metapher vom Erinnerungs- oder gar Zeitspeicher ist trügerisch, suggeriert sie doch in hohem Maße Verlässlichkeit, Stabilität und Unwandelbarkeit. Für die ausdauernde lebensgeschichtliche Erinnerung jedenfalls wären andere Bilder zu suchen: Ver­ge­gen­wär­tigt man sich, wie ungleichmäßig und oft unkalkulierbar die Zeitenabstände zwischen den erinnerbaren Lebensmomenten sind und was nicht alles dabei nur mutmaßlich zu rekonstruieren ist oder schemenhaft im Hintergrund bleiben muss, kann einem die­ses schwindelerregende, über riesige Lücken hinwegführende Unternehmen im Blick zurück wie ein Ritt über den Bodensee vor­kom­men. Aber noch dieses Bild wird zu sehr von dem heilfrohen Nachgefühl der glücklichen Rettung und endlichen Sicherheit be­herrscht. Umfassender und tiefer wäre das – seit der Kindheit mich begleitende – Sinnbild der Odyssee, das über dem Ziel den Lebensweg nicht vergisst, die Serie der Irrungen, Niederlagen und den Verlust der Gefährten auch durch die lange unwillkürliche Erinnerungsbildung; und im übrigen offen bleibt für den Nebenmythos, wonach der Heimgekehrte zuletzt wieder zu neuer gro­ßer Entdeckungsfahrt aufbricht.

   Muss aber nicht derjenige, der die Verlässlichkeit der Erinnerungen so skeptisch beurteilt, sich zugleich auch von der Nach­weis­barkeit einer folgerechten persönlichen Entwicklung verabschieden? Nun, selbst ein solcher Skeptiker dürfte zumindest eine ge­wis­se biographische Stimmigkeit für sich unterstellen. Und entrollt sich vor ihm als Besucher die weitere Lebensgeschichte eines


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