Die Thesen der im 20. Jahrhundert die philosophische Anthropologie weithin dominierenden Denker und Forscher wie Max Scheler, Helmuth Plessner, Adolf Portmann und Arnold Gehlen wurden in der Sloterdijk-Habermas-Debatte zwar immer wieder zitiert, aber in der Regel ging das nicht über einige Stichwörter oder Textzeilen hinaus. Erst recht nicht untersucht wurde die kultur- und geistesgeschichtliche Herkunft dieser in den 1920er bis 40er Jahren formulierten Konzepte von der umweltentbundenen „Weltoffenheit” des Menschen, dessen „Geist” ihn zum „ewigen Protestanten gegen alle Wirklichkeit” macht (Scheler), von diesem „Leistungswesen” und seiner nur gebrochene Lebensverhältnisse zulassenden „Exzentrizität” (Plessner), von seinem Status als „sekundärer Nestflüchter” mit „extrauterinem Frühjahr” (Portmann), seiner „Instinktreduktion”, „Plastizität” und Angewiesenheit auf „Entlastung” durch kulturelle Institutionen (Gehlen). Der in den nachfolgenden Kapiteln gegebene Rückblick in die gut 500jährige Problemgeschichte wird eine weithin verborgene Konsequenz in der Suche nach Grund und Ausmaß der Weltoffenheit des Menschen zu erkennen geben. Denn offenbar war diese Entwicklung untrennbar mit der ganz anderen des zunehmenden Glaubensverlustes an metaphysische Absicherungen verquickt und wurde speziell vom zunehmenden Zweifel an der Existenzberechtigung eines Schöpfergottes vorangetrieben.
Der Renaissancephilosoph Pico della Mirandola gilt als der erste, der in der Neuzeit den Menschen als das sich selber gestaltende Wesen definiert hat. Zu Beginn seiner Oratio, die er 1486/87 als Eröffnungsrede eines von ihm geplanten europäischen Gelehrtenkongresses schrieb, trägt der 23jährige Graf von Concordia seine hochgemuten Gedanken unter dem – postum von seinen Herausgebern formulierten – Titel De hominis dignitate (Über die Würde des Menschen) vor. An zentraler Stelle lässt er hier den „höchsten Vater und Schöpfergott” seinen ersten Menschen wie folgt ansprechen:
„Keinen bestimmten Platz habe ich dir zugewiesen, auch keine bestimmte äußere Erscheinung <’propriam faciem’> und auch nicht irgendeine besondere Gabe habe ich dir verliehen, Adam, damit du den Platz, das Aussehen und alle die Gaben, die
- 10 -