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Auf dem Rückweg vom Sportplatz, in Höhe der roten Pfahlmarkierung: „Lakritz, Lakritz...” (Foto vom Januar 1990)

 

Vom Rektor vor der Klasse bloßgestellt

 

Im Frühjahr 1955, wenige Wochen vor meinem Wechsel aufs Gymnasium, gehen wir Schüler in Begleitung unseres Rektors vom Sportplatz zurück zur Schule. Auf dem schmalen Weg hinter dem Rasenplatz, auf dem immer nur zwei oder drei von uns nebeneinanderhergehen, höre ich hinter mir, wie ein Mitschüler meines jün­ge­ren Bruders deklamiert:

Lakritz, Lakritz,

Die Frauen haben 'nen Schlitz.
Die Männer haben 'nen Pillemann,
Da spielen die Frauen gerne dran.”

Unerhört! Hell empört laufe ich nach vorn zu einem Mitschüler oder auch Schülergrüppchen und sage: „Weißt du/Wißt ihr, was der Ka. da gerade erzählt hat?” Und ich wiederhole den Spruch.

 

Am nächsten Morgen ruft mich der Rektor aus meiner Bank nach vorn. Ich muß mich rechts neben ihn hinstellen und blicke auf meine Klassenkameraden, während er fragt: „Wer von euch hat gehört, daß der Fleig gestern diese Sachen(?) erzählt hat?” Und sogleich, ohne eine Erklärung von mir zu verlangen, ruft er aus der rech­ten Bankseite der Jungen einen nach dem anderen auf. Ich weiß, daß er nach jenem Spruch fragt, kann mir dazu aber keine weiteren Gedanken machen, so peinlich ist mir die Situation, in der ich ja auch den Mädchen gegenüberstehe, die zu meiner Linken dasitzen. Schon haben einige Mitschüler die Frage des Rektors verneint, dar­un­ter ein Junge, der es mit angehört hatte. Dann aber antwortet ganz hinten rechts jemand mit „Ja”: Es ist mein Mitschüler Ulrich. Ich sehe ihn noch dort ste­hen, eine große „dunkle” Gestalt, als ich schon einen heftigen Schlag ins Gesicht erhalte.

Ich weiß nicht mehr, wie es weiterging. Jedenfalls war ich so gelähmt, dass ich nach meiner „Entlarvung” kein Wort der Rechtfertigung fand und sicherlich auch nicht nach dem genaueren Hergang gefragt wurde. Meine Eltern wurden sogleich davon in Kenntnis gesetzt, doch ist mir entfallen, ob oder wie sie mich zusätzlich be­straf­ten. Wie mir mein jüngerer Bruder später erzählte, wäre auch er, der nichts damit zu tun hatte, vor seiner Schulklasse dazu befragt worden.


Wie in einen bösen Traum gebannt, sehe ich mich von nun an vor den Mädchen, von denen ich einige gut leiden mag, als den übelsten aller Schurken dastehen. So beschämt bin ich, dass ich es kaum erwarten kann, bald aufs Gymnasium zu kommen, weit weg von hier.

Als ich mit ungefähr 15 Jahren zum ersten Mal wieder meinem ehemaligen Klassenkameraden Helmut zusammentraf, fragte ich ihn bald, ob er sich noch an jenen Zwischenfall erinnerte. Er bejahte es, ging aber diskret darüber hinweg, so, als hätte es überhaupt nichts zu bedeuten. Nicht von ungefähr wandte ich mich Anfang der 90er Jahre zuerst an ihn, als ich mich für Schicksal und auch Erinnerungspotential meiner ehemaligen Kameraden zu interessieren begann.

   Inzwischen fiel ein neues Licht auf jenen Klassenkameraden, von dem ich mich verraten fühlte: Wie ich um 1990 von einem ehemaligen Mitschüler erfuhr, wäre Ulrich später ein bemerkenswert widerspenstiger Schüler gewesen und hätte es gar fertiggebracht, sich einmal für längere Zeit selber vom Schulbesuch zu befreien. Seitdem ich dies weiß und sein Verhalten nicht nur vom Standpunkt des Erwachsenen aus relativieren kann (im Bewusstsein etwa, dass er in einer religiös orthodoxen oder sektiererischen Familie aufwuchs), sondern indem ich ihm erneut gleichsam auf kindlicher Augenhöhe begegnen und altersgemäß frischen Respekt ent­ge­gen­brin­gen kann, ist er für mich immer weiter aus jenem Schatten des Denunzianten getreten. Und wie ich ihn wieder als meinesgleichen betrachte und nicht länger als ei­ne „dunkle” Judasfigur, so habe ich umgekehrt ein anderes, selbstkritischeres Gefühl für meine eigene damalige Rolle – hätte ich doch bei einer Befragung durch den Rek­tor den vorwitzigen Erzähler dieser anstößigen Verschen wohl selber beim Namen genannt. Meine Verbitterung hat sich auf diese Weise erheblich ab­ge­schwächt. Für unseren Rektor allerdings mag ich an kein billig versöhnliches Wort denken und will ihm und seinesgleichen den dauernden Missbrauch ihrer Macht über uns Kinder nicht nachsehen.

   Mir ist inzwischen eine wohl aus der 68-er Bewegung stammende und womöglich als kindergartentauglich eingeschätzte Gedichtvariante zu Ohren gekommen:

Lakritze, Lakritze, die Mädchen ham’ne Ritze.

Die Jungen ham’nen Hampelmann, da ziehn die Mädchen gerne dran!”

 
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